Krankheitsbedingte Mangelernährung ist nach Einschätzung der Techniker Krankenkasse (TK) und der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) eines der am häufigsten unterschätzten Probleme des deutschen Gesundheitssystems. Darauf haben TK und DGEM anlässlich der europäischen Aktionswoche für Mangelernährung („Malnutrition Awareness Week“, 10.-14. November) hingewiesen.
Der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas sagt: „Es ist kaum zu glauben, aber einerseits behandeln wir die Patientinnen und Patienten mit allen Segnungen moderner High-Tech-Medizin und gleichzeitig sterben jedes Jahr viele tausend Patientinnen und Patienten in deutschen Krankenhäusern, weil ihr Körper aufgrund der Ernährungsdefizite zu sehr geschwächt ist.“ 20 bis 30 Prozent aller Patientinnen und Patienten leiden Studien zufolge bei der Aufnahme im Krankenhaus an Mangelernährung.
Höchste Zeit für einen Bewusstseinswandel
„Mangelernährung ist ein ernsthaftes medizinisches Problem und keine Kleinigkeit“, so Professor Matthias Pirlich von der DGEM. Sie führe zu Wundheilungsstörungen, verlängerten Krankenhausaufenthalten und einer Schwächung von Körper und Immunsystem. Einige Krankheitsbilder seien besonders stark betroffen. Der Leiter der Ernährungsmedizin des Leipziger Universitätsklinikums Professor Lars Selig berichtet: „Jeder zweite Demenzpatient ist betroffen und ein Fünftel der Krebstoten stirbt nicht an der eigentlichen Krebserkrankung, sondern daran, dass wir es nicht schaffen, ihrem Körper ausreichend Nährstoffe zuzuführen. Es wird höchste Zeit, dass wir dem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken.“
Die TK hat deshalb im Rahmen einer Erprobung spezielle Behandlungsverträge – so genannte Qualitätsverträge – mit bundesweit acht Krankenhäusern von Krefeld bis Leipzig und von Tübingen bis Hamburg ausgearbeitet. Baas: „Besonders betroffene Patientengruppen werden bei der Aufnahme speziell auf ihren Ernährungszustand untersucht und bei Bedarf gezielt beraten.“
Klassisches „Henne-Ei-Problem“
Grundsätzlich seien sowohl Screenings als auch die Behandlung einer Mangelernährung eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Der DGEM-Präsident Dr. Gert Bischoff erklärt: „Bisher spielen diese Leistungen aber kaum eine Rolle im Abrechnungssystem, weil zu diesen Leistungen so wenig Daten vorliegen, dass für sie keine Preise berechnet werden können.“ Deshalb gebe es nur wenige Kliniken, die den Aufwand leisteten. Und solange diese Kosten nicht erfasst würden, könnten sie auch nicht angemessen im Vergütungssystem abgebildet werden. TK-Chef Baas: „Das ist ein klassisches Henne-Ei-Problem. Im Rahmen des so genannten Qualitätsvertrags können wir diese Leistungen über speziell vereinbarte Zuschläge finanzieren. Wir hoffen, dass wir durch unser Pilotprojekt hier etwas bewirken können. Die Verträge sollen zeigen, wie gut das Projekt Mangelernährung entdecken und die Behandlung optimieren kann. Außerdem wollen wir herausfinden, welche Kosten sich bei den Krankenkassen und Kliniken dadurch vermeiden lassen.“
Behandlung in der Regel nach der Entlassung fortgeführt
Für die Qualitätsverträge müssen die Krankenhäuser ein interdisziplinäres Ernährungsteam – bestehend aus Ärzten, qualifizierten Ernährungsfachkräften wie Diätassistentinnen, Ökotrophologen und Ernährungswissenschaftlerinnen sowie Pflegefachkräften vorweisen. Bestimmte vertraglich vereinbarte Patientengruppen werden bei der stationären Aufnahme auf das Risiko einer Mangelernährung gescreent. Bestätigt sich diese, dann erfolgt eine ausführliche Erhebung des Ernährungszustands, so dass während des Krankenhausaufenthalts eine individuelle Ernährungsberatung und -behandlung erfolgen kann. Teilweise wird auch während des Klinikaufenthalts geprüft, ob zum Beispiel die OP eine Mangelernährung zur Folge hat. Professor Selig vom Universitätsklinikum Leipzig sagt: „Meist kann das Problem nicht während des Krankenhausaufenthalts komplett behoben werden.“ In der Regel werde deshalb auch für die Zeit nach der Entlassung eine besondere Ernährung.